Eine Zitrone oder eine Mandarine?
Worum es geht
Vor fast 300 Jahren wurde im Torniotal Geschichte der Wissenschaft geschrieben. Eine Gruppe französischer Akademiker kam im Norden an. Ihre Aufgabe war es, die Form der Erde zu vermessen. Gleichzeitig verewigten sie in ihren Tagebüchern Beschreibungen über das Leben der Einheimischen.
Reiseberichte führen in die Geschichte
Aus den Notizen entstanden ein abenteuerlich-wissenschaftliches Werk „La Figure de la Terre“, 1738 (z. dt.. „Die Form der Erde“) und das Reisetagebuch „Journal d’un voyage au Nord“, 1744 (z. dt. „Tagebuch einer Reise in den Norden“).
Das Erstgenannte wurde von dem Expeditionsleiter, Akademiker Pierre Louis Moreau de Maupertuis, verfasst. Das Werk ist eine Kombination aus einem wissenschaftlichen Bericht und einem Reisebericht. Das Letztgenannte wurde von einem Expeditionsmitglied, dem Geistlichen Réginald Outhier, geschrieben und illustriert.
Dank dieser Werke können wir auch heute den Fußspuren der französischen Forschungsreisenden im Tornetal der 1730er Jahre folgen.
Gleicht die Form der Erde der einer Mandarine oder der einer Zitrone?
Anfang des 18. Jahrhunderts gab es konkurrierende Theorien zur Form der Erde und verschiedene Ansichten wurden mit Zitrusfrüchten veranschaulicht.
Vereinfacht gesagt ging es um einen Streit zwischen den Anhängern der kartesianischen und der Newtonschen Naturwissenschaft. Gemäß der Auffassung des französischen Philosophen und Mathematikers René Descartes (1596–1650) verlängerte sich die Erde zu den Polen hin wie eine Zitrone.
Nach der Gravitationstheorie des britischen Physikers und Mathematikers Sir Isaac Newton (1643–1727) war die Erde an den Polen abgeplattet wie eine Mandarine.
Frankreich wollte Ruhm in Wissenschaften und in der Schifffahrt
Um den Streit lösen zu können, entsandte die französische Königliche Akademie der Wissenschaften 1735 eine Expedition zum Äquator in Südamerika und ein Jahr später zum nördlichen Polarkreis im Tornetal.
Das Ziel der Expeditionen war die Vermessung der Länge eines Meridiangrades. Sollte dieser am Polarkreis länger sein als in Frankreich und am Äquator, dann wäre die Erde an den Polen abgeplattet.
Die Vermessung der Form der Erde war für Frankreich eine Sache des Prestiges und der Praxis zugleich. Sowohl die koloniale Schifffahrt als auch die Handelsschifffahrt zogen ihren Nutzen aus immer genaueren Seekarten. Der König Ludvig XV. von Frankreich war deshalb bereit, in die Gradmessung zu investieren.
Forschungen am nördlichen Polarkreis
Die achtköpfige Expedition wurde von dem Mathematiker und Astronom Pierre Louis Moreau de Maupertuis geleitet (1698–1759).
Die Expedition war auf den Bergen zwischen Tornio und Pello unterwegs und führte geodätische Messungen mit den besten zur damaligen Zeit verfügbaren Instrumenten durch.
Mit Hilfe von Einheimischen wurden im Sommer und Herbst 1736 auf den Bergen Zielmarken sowie eine Triangulationskette errichtet. Große Teile der bewaldeten Gipfel wurden gerodet um Sichtverbindungen zwischen den Zielmarken zu schaffen.
In Gruppen aufgeteilt bewegten sich die Forscher zwischen den Vermessungspunkten hin und her. Sie wurden stets von zahlreichen einheimischen Hilfskräften begleitet. Weite Fussmärsche, Nächte unter freiem Himmel und lästige Stechmücken waren Alltag.
Triangulation basiert auf Trigonometrie
Die Triangulation (Dreiecksmessung) hatte sich im 16. und 17. Jahrhundert als Methode der Kartographie etabliert. Sobald die Länge einer Seite eines Dreiecks bei einer Triangulationskette – Grundlinie – bekannt ist, lassen sich die übrigen Dreiecksseiten durch Messung der Winkel zwischen den Seiten trigonometrisch berechnen.
Zur Winkelmessung wurde ein Quadrant verwendet.
Die Grundlinie der Kette wurde von der Expedition Maupertuis´ auf dem Eis des Tornio-Flusses bei Ylitornio gemessen. Die Arbeit wurde im Dezember bei frostigen Temperaturen ausgeführt.
Zur Messung verwendete man 10 Meter lange Holzstangen, die auf dem Eis des gefrorenen Flusses auf einer Strecke von 14 Kilometern in einer Reihe angeordnet wurden.
Der Grad wird anhand von Sternen gemessen
Nachdem die Triangulationskette im Sommer vermessen und damit die Entfernung zwischen Tornio und Pello ermittelt worden war, war es an der Zeit, den Blick auf den Sternenhimmel zu richten.
Im Herbst 1736 wurden in Tornio und Pello Observatorien gebaut. Darin maßen die Forscher anhand des Zenitsektors den Standort der Vermessungspunkte auf dem Meridianbogen. Als Fixstern diente der δ- bzw. Deltastern des Sternbilds Drache. Auf diese Weise wurde der Gradunterschied zwischen den Endpunkten der Triangulationskette ermittelt.
Nachdem die Länge des Grades ermittelt war, ließ sie sich mit der entsprechenden Messung in Frankreich vergleichen.
Das Verfahren mag einfach klingen, war es aber unter den damaligen Bedingungen nicht. Bereits der Transport von großen und wertvollen Instrumenten zu den Vermessungspunkten stellte eine eigene Herausforderung dar. Zum Glück der Expedition war der Tornio-Fluss ein guter Verkehrsweg.
Wichtige wissenschaftliche Errungenschaft
Das Tornetal war ein Schauplatz für die Wissenschaftsgeschichte, als die Expedition als erste der Welt experimentell bewies, dass die Erde an den Polen abgeplattet ist. Die Messung bestätigte die Newtonsche Gravitationstheorie.
Das nächste bedeutende Triangulationsprojekt in Finnland waren die Vermessungen des Struve-Meridianbogens in den Jahren 1830–1855. Bei der sich vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer erstreckenden Messpunktkette fanden im Torniotal dieselben Punkte Verwendung, die bei den von Maupertuis geleiteten Messungen 100 Jahre zuvor genutzt worden waren.
Die Triangulationstechnik wurde bis Ende der 1980er Jahre verwendet. Sie wurde durch die GPS-Satellitenortung ersetzt, die das Vermessungsamt Finnlands als eines der ersten der Welt im Jahre 1986 einführte.